Ukraine-Russland-Krieg in Fotos: Der Krieg hat ihnen alles genommen

Unsere Reporter haben in der Ukraine Menschen getroffen, die alles verloren haben: das Kind, die Ehefrau, Haus und Wohnung und oft damit alle Erinnerungen. Jan Jessen (Text) und Reto Klar (Fotos) haben sie ihre Geschichten erzählt.

Olena Andriyanowa in Borodjanka

Foto: Reto Klar

„Dieses Haus wurde 1986 gebaut. Wir sind mit unserer Familie eingezogen“, sagt Olena Andriyanowa. Sie steht im Kinderzimmer ihrer Wohnung in einem Appartement-Haus am Rand von Borodjanka. Zuletzt spielten hier die neunjährigen Zwillinge. Als die Russen Borodjanka Anfang März in Ruinen schossen, war die Familie nicht da, sie hatten sich zu Verwandten abgesetzt. Jetzt ist ihre Wohnung im achten Stock zerstört. Die 41-Jährige ist an diesem Tag schon etliche Male hinunter durch das enge Treppenhaus gegangen, das mit Schutt übersät ist, und hat Tüten mit ihren Habseligkeiten heruntergebracht.

In ihrem früheren Wohnzimmer steht ihr Flachbildschirm. Darauf hat jemand, vermutlich ein russischer Soldat, ein großes „V“ gesprüht. Das „V“ findet sich neben dem allgegenwärtigen „Z“ auf russischen Militärfahrzeugen, es steht für „Sila v pravdye“: „In der Wahrheit liegt die Kraft“. Im Kinderzimmer ringt Andriyanova mit den Worten. „Wir haben hier mit unseren Kindern gelebt. Jetzt haben wir nichts mehr.“ Aber, sagt sie, das wichtigste sei, dass der Krieg endet. „Wir sind wirklich stolz auf unseren Präsidenten. Er ist stark“. Dann beginnt sie zu weinen.

Anton Furmanyuk in Butscha

Foto: Reto Klar

„Sie wollte tanzen. Das hat ihr immer großen Spaß gemacht“, sagt Anton Furmanyuk. Er steht auf dem neuen Friedhof von Butscha. 40 Menschen sind in den vergangenen Tagen beerdigt worden. Furmanyuk besucht seine Nichte Katharina, die mit 15 Jahren gestorben ist. Er steht vor ihrem Grab, senkt den Kopf, betet. „Katharina und ihre Mutter waren in Hostomel. Ihr Stiefvater beim Militär. Tagelang haben die beiden in einem Luftschutzkeller gesessen.

Am 2. März wollten sie nach Kiew.“ Dort kommen sie nie an. Ihr Auto wird beschossen und sie in ein Krankenhaus in Borodjanka gebracht. „Katharina hat den Arzt immer wieder gefragt, ob sie am Leben bleiben wird.“ Am nächsten Tag stirbt die 15-Jährige. Ihre Mutter flieht vor den Russen, die Beerdigung findet ohne die Eltern statt. Auf ihrem Grabhügel hat jemand eine Banane abgelegt. „Das war ihre Lieblingsfrucht“, sagt Furmanyuk. Er hat für sie ein kleines Stofftier dabei, so etwas hat sie geliebt.

Lubow Losowa in Bobrowyzja

Foto: Reto Klar

„Ich weiß nicht, was jetzt mit uns geschehen wird“, sagt Lubow Losowa. Die roten Backsteine ihres zerstörten Hauses liegen im Garten verstreut, in dem sie Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken, Tomaten und Pfeffer angebaut hatte. Ein großer Nussbaum ist angesengt. In der Erde klaffen die Krater von vier Bombeneinschlägen. Die fünfte Bombe traf in der Nacht zum 23. März direkt das Haus. „Ich war mit meinem Sohn im Flur, mein Mann hat draußen Futter für die Tiere gemacht“, erzählt die ehemalige Lehrerin.

Bei dem Bombardement starben die Kuh, das Kalb, die zwei Schweine, die Hunde und die drei Katzen der Losowas. „Meine Eltern haben das Haus gebaut. Als ich 14 Jahre alt war, haben meine Eltern es vergrößert. Ich habe nur gute Erinnerungen daran. Es ist hier nie etwas Schlimmes passiert.“ Die ehemalige Lehrerin hat drei Söhne. Einer ist als Soldat in Mariupol eingesetzt. „Ich habe seit eineinhalb Monaten nichts mehr von ihm gehört“, sagt sie und weint.

Olexander Osinow in Butscha

Foto: Reto Klar

„Wir waren zehn Jahre verheiratet“, sagt Oleksandr Osipow. Er steht auf einem Platz an der Deputatska-Straße in Butscha nahe Kiew. Hier sind die Wracks russischer Panzer und Militärfahrzeuge aufgetürmt, genauso wie zerstörte Autos ukrainischer Zivilisten. Osipow steht vor einem weinroten Mitsubishi Colt. In diesem Auto sind seine Frau Victoria, sein Sohn Wiacheslaw und sein Schwiegervater Anatoly gestorben. Im Wageninneren liegt noch die blutverschmierte Handtasche seiner Frau. In der Karosserie des Autos klaffen etliche Einschusslöcher.

Osipow, Mitte 60, stammt aus Donezk, jener Region im Osten der Ukraine, die seit acht Jahren umkämpft ist. „Vor einem Jahr sind wir nach Hostomel gezogen, meine Frau wollte dorthin, weil ihre Eltern dort leben.“ In Hostomel im Nordwesten von Kiew tobten seit Beginn des russischen Überfalls heftige Gefechte. „Da haben wir entschieden, über Irpin nach Kiew zu fliehen“, erzählt Osipow. Am 2. März fahren sie mit zwei Autos los. Das erste Auto steuert der 32-jährige Sohn, neben ihm sitzt die Mutter, auf dem Rücksitz der beinamputierte Schwiegervater.

„Um 9.30 Uhr geraten sie in Irpin unter Beschuss. „Die ersten Schüsse trafen meinen Sohn und meine Frau, die nächsten meinen Schwiegervater“, erinnert sich Osipow und wieder füllen sich seine Augen mit Tränen. Der Witwer lebt jetzt im 400 Kilometer entfernten Ternopil. An diesem Tag sieht er zum ersten Mal das Auto wieder, in dem sie gestorben sind. Er fasst das Wrack an, streichelt darüber, als könne er seine Lieben spüren. Eine Tür steht offen, er schließt sie vorsichtig. Dann geht Oleksandr Osipow davon.

Witaly Artemenkow in Borodjanka

Foto: Reto Klar

„Wir haben es gebaut und wir werden es wieder aufbauen“, sagt Witaly Artemenkow. Er steht vor den Resten seines gelben Hauses in Borodjanka. Der Rentner hat früher als Liquidator gearbeitet, hat radioaktiven Schutt nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl abgetragen. Am 2. März wurde sein Haus und die gegenüberliegenden Wohnblöcke durch einen russischen Luftangriff zerstört. Er war mit dem Sohn im Flur des Wohnblocks, seine Frau im Keller des eigenen Hauses.

„Es war 7.47 Uhr morgens.“ Der 67-Jährige weiß das genau, weil seine Wohnzimmer-Uhr zu diesem Zeitpunkt stehen blieb. „Wir haben das Flugzeug kommen hören.“ Die Explosion drückt ihn und sein Sohn Wanja zu Boden. Ihr Glück. Das Flugzeug kehrt nach einer Kurve zurück. Es wird lauter und wirft eine zweite Bombe ab. Betonbrocken werden zu Geschossen, die in sein Haus einschlagen. „Die Explosion war gewaltig.“ In den Wohnblöcken sterben viele Menschen. „Im Haus gegenüber waren es bestimmt 20.“ Er und seine Familie überleben. Fast alle Häuser in seiner Nachbarschaft werden bei dem Angriff zerstört.

Oleh Kotelenetz in Tschernihiw

Foto: Reto Klar

„Wir haben all unsere Kraft und Emotionen hineingesteckt. Jetzt ist alles kaputt“, sagt Oleh Kotelenetz. Der 31-Jährige steht in den Trümmern des ehemaligen Schtscho-Kinos in Tschernihiw. Das Kino wurde 1939 eröffnet. Im Zweiten Weltkrieg wurde es zerbombt. „Jetzt haben es zum zweiten Mal Faschisten zerstört“, sagt Kotelenetz. Er ist der stellvertretende Leiter des Jugendzentrums der Stadt, das nach der Schließung des Kinos im Jahr 2017 in dem Kino untergebracht wurde.

„Wir haben hier mit den jungen Leute Filme geschaut und darüber diskutiert. Wir haben Workshops gemacht und traditionelle Feiern gehabt, besonders zu Festtagen wie Weihnachten und Ostern.“ 25.000 Gäste zählten sie im vergangenen Jahr in ihrem Zentrum. Am 27. Februar wurde es in der Nacht von einer russischen Bombe getroffen. „Hier arbeiten zu können, war eine Bestimmung für mich. Das war hier nicht nur ein Gebäude. Wo sollen die jungen Leute denn jetzt hingehen?“

Larysa Pochepnya in Tschernihiw

Foto: Reto Klar

„Ein Buch ist doch eines der wichtigsten Dinge, die es im Leben gibt“, sagt Larysa Pochepnya. Die kleine Frau steht vor den Ruinen der Bibliothek in Tschernihiw, in der sie 40 Jahre lang gearbeitet hat. In der Hand hält die 60-Jährige zwei Bücher, es sind Kinderbücher über die ukrainische Geschichte und über ihre Helden. Es sind die beiden einzigen, die Pochepnya retten konnten. 80.000 Bücher gingen in Flammen auf, als die Bibliothek in der Nacht auf den 11. März bei einem russischen Luftangriff getroffen wurde.

„Hier wurde 1902 das erste Museum für ukrainische Geschichte eröffnet. 1978 wurde es dann zu einer Bücherei für Kinder und Jugendliche“, erzählt die Bibliothekarin. 10.000 Kinder und junge Erwachsene kamen Jahr für Jahr hierher. Nach dem Luftangriff hat Pochepyna drei Tage gebraucht, bevor sie sich traute, zur Bibliothek zu gehen. Ihr steigen Tränen in die Augen. „Das war meine Familie, nicht nur mein Job. Das war mein zweites Zuhause.“

Stanislav Zarayenkow in Tschernihiw

Foto: Reto Klar

„Seit 27 Jahren ist das mein zweites Zuhause“, sagt Stanislav Zaryenkow. Er sitzt in der entglasten Bushaltestelle vor dem Stadion des FK Desna in Tschirnihiw. Der 45-Jährige trägt einen Jogginganzug in Gelb und Blau, den Farben seines Vereins, der in der ersten ukrainischen Liga spielt. Vor dem Krieg waren die 5000 Tribünenplätze bei Heimspielen voll besetzt. Jetzt ist das Stadium zerstört. Zersplitterte rote Plastiksitze liegen auf den Trümmern der Gegentribüne. Bizarr verformte Eisenträger klaffen aus den Resten der Umkleidekabinen.

„Putin Huilo“ haben sie in den vergangenen Jahren immer wieder gerufen. Die Schmähung ist mit „Dreckskerl Putin“ noch milde übersetzt. In der Nacht auf den 11. März sind russische Bomben im Stadion des FK Desna eingeschlagen. Der FK Desna war der Verein, in dem der ukrainische Fußballprofi Andrij Jarmolenko groß wurde, der 2017 und 2018 für Borussia Dortmund spielte. Funktionäre des Clubs aus dem Ruhrgebiet waren kürzlich in Tschernihiw. Sie haben versprochen, beim Wiederaufbau des Stadions zu helfen. „Das wird aber bestimmt drei Jahre dauern“, glaubt Stanislaw Zaryenkow.

Yuri Selywon in Bobrowyzja

Foto: Reto Klar

„Wir warten darauf, dass der Staat uns hilft. Aber die erzählen so viele Märchen“, sagt Yuri Selywon. Er steht vor seinem Haus in Bobrowyzja, einem dörflichen Stadtteil von Tschernihiw. Er zeigt auf den Krater in seinem Garten. „Da ist die Granate vor drei Wochen eingeschlagen.“ Das Dach ist abgedeckt, Türen sind rausgerissen, Fenster zersplittert. „Ich habe in meinem Schlafzimmer gelegen und nichts von der Explosion mitbekommen“, sagt der 73-Jährige, der erst am nächsten Tag sah, dass das ganze Haus kaputt ist.

Er hat hier seit 1975 gelebt, seine Frau ist vor einiger Zeit gestorben. „Sie hat mir immer gesagt, ich soll kein Radio hören, weil die da nur Lügen erzählen.“ An der Leine im Garten hängt noch die Wäsche. Drinnen im Haus ist die Decke heruntergekommen. Im Wohnzimmer liegen Trümmer, umgeworfenen Sessel mit lehmiger Erde bedeckt, die Lampe hängt schief herunter. Nur das kleine Bücherregal steht noch. Jetzt lebt Selywon bei einem Freund. „Ich komme nur manchmal hierher, um nach dem Rechten zu sehen.“

Larysa Halas in Borodjanka

Foto: Reto Klar

„Putin hat uns alles genommen“, sagt Larysa Halas. Die 48-Jährige steht vor den Ruinen des fünfstöckigen Wohnblocks an der Hauptstraße von Borodjanka. Wo Fenster waren, klaffen schwarze Löcher. Die Rasenfläche vor dem Haus ist voller Glas, zersplittertem Holz, Brocken von Beton. Eine gelbe Schaukel hängt nur noch an einer Kette. „Ich habe hier seit 1983 im dritten Stock gewohnt“, erzählt Halas. Mit ihr lebten ihre Tochter und die kleine Enkelin in der Wohnung. In ihrer Hand hält sie eine Tüte, darin Weihnachtsschmuck und eine Tasse. „Ich hatte eine ganze Sammlung von Tassen. Jetzt habe ich nur noch diese eine.“

Als in der Nacht zum 2. März Bomben auf Borodjanka fallen, ist Halas in einem Nachbardorf, wo sie ein Lebensmittelgeschäft betreibt. Wochenlang harrt sie in ihrem Geschäft aus. Am 4. März erhält sie die erlösende Nachricht, dass ihre Tochter und Enkelin Sicherheit sind. Auf dem Spielplatz vor dem Haus liegt die Leiche eines Mannes. „Er war verbrannt und hatte kein Gesicht mehr. Die Hunde. Sie wissen schon.“


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